Das deutsche Wirtschaftswunder, das jahrzehntelang auf einer starken Industrie und dem Export basierte, steht heute vor ernsten Herausforderungen. Hohe Energiekosten, zunehmende Bürokratie und strukturelle Defizite in Infrastruktur und Digitalisierung belasten den Wirtschaftsstandort. Die Exportabhängigkeit erweist sich in einer Zeit globaler Unsicherheiten und Handelskonflikte als Schwachstelle. Vor allem energieintensive und technologieabhängige Branchen kämpfen mit wachsenden Kostennachteilen und einem unsicheren politischen Umfeld. Gleichzeitig erfordert der Klimawandel teure Umstellungen in der Produktion, ein sich verschärfender Fachkräftemangel bedroht das wirtschaftliche Wachstum.
Die Herausforderungen sind mannigfaltig. Um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, benötigt Deutschland eine umfassende Transformation hin zu einer resilienteren und innovativeren Wirtschaft. Doch jüngere Studien stellen der deutschen Industrie ein schwaches Zeugnis aus. Die Industrie wandert aus – Unternehmen haben keine Lust mehr auf Deutschland.
84 % aller Manager sehen Standort Deutschland negativ
Die aktuelle EY-Studie zeigt eine deutliche Tendenz zur Abwanderung deutscher Industrieunternehmen ins Ausland. Fast die Hälfte (45 Prozent) plant neue Standorte außerhalb Deutschlands, während lediglich 13 Prozent im Inland investieren wollen. Diese Auslandsexpansion geht oft mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen einher: Rund 29 Prozent der Unternehmen wollen Stellen ins Ausland verlagern, während nur vier Prozent eine Rückführung nach Deutschland planen. Der Trend ist eindeutig.
Ein erheblicher Stellenabbau in Deutschland dürfte somit in den nächsten Jahren stattfinden. Rund 63 Prozent der befragten Manager prognostizieren einen Verlust an Arbeitsplätzen. Die wirtschaftliche Stimmung ist düster: 84 Prozent bewerten die aktuelle Lage negativ. Besonders die Bürokratie gilt als Wachstumsbremse – 70 Prozent der Manager sehen sie als größtes Hindernis.
Das Fazit der Analysten von EY ist desaströs und hält ebenfalls die Bürokratie als kausal für den Status quo:
„Wer in Deutschland neu investieren will, sollte viel Zeit und Geduld mitbringen. Das führt viel zu oft dazu, dass die Unternehmen dahin gehen, wo ihnen schnell und unbürokratisch geholfen wird: ins Ausland. Wir brauchen dringend eine neue Willkommenskultur für Industrieunternehmen.“
Massive Herausforderungen & Nachteile: Investitionen erforderlich
Eine neue Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) und der Boston Consulting Group (BCG) beleuchtet derweil ebenfalls die strukturellen Herausforderungen der deutschen Industrie. Die hohen Energiekosten, in Kombination mit einem zunehmenden Arbeitskräftemangel, belastender Bürokratie und veralteter Infrastruktur, schwächen den Standort Deutschland. Kostennachteile bei Energie und Löhnen führen dazu, dass Deutschland im internationalen Vergleich zunehmend an Attraktivität verliert.
Die Industrie, die etwa ein Fünftel zur deutschen Bruttowertschöpfung beiträgt, steht vor besonderen Risiken. Vor allem energieintensive Sektoren sind von den steigenden Energiekosten betroffen, was zur Verlagerung von Produktion ins Ausland führen könnte. Zudem zeigt die Studie, dass wichtige Modernisierungsinvestitionen in den Bereichen Digitalisierung und Energiewende bislang unzureichend sind.
Um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben, fordert die Studie mutige Investitionsprogramme. Es geht um eine Transformation, die den Standort zukunftsfähig macht und gleichzeitig die gesellschaftliche Stabilität sichert.
Für eine handlungsfähige deutsche Industrie seien also gezielte Maßnahmen in drei Bereichen erforderlich.
Erstens müsse die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts durch eine kostengünstige Energieversorgung, moderne Infrastrukturen und umfassende Digitalisierung wiederhergestellt werden.
Zweitens gelte es, die industrielle Basis zu sichern, indem die Dekarbonisierung unterstützt und die Kreislaufwirtschaft gestärkt wird. Bürokratische Hürden sind abzubauen, die Fachkräftelücke muss dringend geschlossen werden, um kritische Abhängigkeiten zu verringern.
Drittens muss neues Wachstum durch Förderung grüner Technologien, Anreize für die Ansiedlung neuer Produktionen und eine Stärkung des Freihandels beschleunigt werden.
Auch die Verfasser der hiesigen Studie sehen eine fundamentale Bedrohung für den Industriestandort Deutschland:
„Der Industriestandort Deutschland steht am Scheide- weg. Die Energiekrise war für die deutsche Industrie ein ökonomischer Schock, durch den vor allem in energieintensiven Branchen die Produktion deutlich eingebrochen ist. Neben hohen Energiekosten steht Deutschland jedoch vor einer Reihe weiterer struktureller Herausforderungen, die die Substanz des deutschen Industriestandorts fundamental bedrohen. Die Polykrise trifft das Land nach zwei Jahrzehnten des Aufschwungs weitgehend unvorbereitet.“
Industrie belastet: Rezessionsgefahr für Deutschland
Laut aktuellen Ifo-Daten steht die deutsche Wirtschaft aufgrund der schwächelnden Industrie vor einer Rezessionsgefahr. Während der private Konsum eine leichte Erholung zeigt, bleibt die Kaufbereitschaft verhalten. Vor allem die Industrie sendet jedoch negative Impulse, da die Wertschöpfung im letzten Quartal deutlich sank und eine Trendwende nicht absehbar ist. Die Auftragslage verschlechtert sich weiter, was auf die schwache Konjunktur und eine verschlechterte Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen zurückzuführen ist. Wenn Deutschland also wieder in eine Rezession gerät, dürfte die Industrie die Hauptschuld tragen.
Ifo: Stimmung der Exporteure schlecht wie seit Jahresbeginn nicht mehr https://t.co/rxemFbdg9z
— manager magazin (@manager_magazin) October 28, 2024
Ferner zeigen Ifo-Statistiken eine anhaltend skeptische Stimmung in der deutschen Exportindustrie. Die Exporterwartungen fielen im Oktober leicht auf minus 6,7 Punkte gegenüber minus 6,5 Punkten im Vormonat. Damit profitieren deutsche Unternehmen derzeit kaum von der positiven globalen Konjunktur. Besonders in der Automobil- und Metallindustrie werden starke Rückgänge erwartet, während die Lebensmittel- und Getränkehersteller auf steigende Exporte hoffen. Doch summa summarum mangelt es an Wachstumsimpulsen – eine Trendwende scheint Ende 2024 nicht indiziert.